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Die wunderlichen Nachbarskinder - Goethe Johann Wolfgang - Страница 1


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Zwei Nachbarskinder von bedeutenden Hausern, Knabe und Madchen, in verhaltnisma?igem Alter, um dereinst Gatten zu werden, lie? man in dieser angenehmen Aussicht miteinander aufwachsen, und die beiderseitigen Eltern freuten sich einer kunftigen Verbindung. Doch man bemerkte gar bald, da? die Absicht zu mi?lingen schien, indem sich zwischen den beiden trefflichen Naturen ein sonderbarer Widerwille hervortat. Vielleicht waren sie einander zu ahnlich. Beide in sich selbst gewendet, deutlich in ihrem Wollen, fest in ihren Vorsatzen; jedes einzeln geliebt und geehrt von seinen Gespielen; immer Widersacher, wenn sie zusammen waren, immer aufbauend fur sich allein, immer wechselsweise zerstorend, wo sie sich begegneten, nicht wetteifernd nach einem Ziel, aber immer kampfend um einen Zweck; gutartig durchaus und liebenswurdig und nur hassend, ja bosartig, indem sie sich aufeinander bezogen.

Dieses wunderliche Verhaltnis zeigte sich schon bei kindischen Spielen, es zeigte sich bei zunehmenden Jahren. Und wie die Knaben Krieg zu spielen, sich in Parteien zu sondern, einander Schlachten zu liefern pflegen, so stellte sich das trotzig mutige Madchen einst an die Spitze des einen Heers und focht gegen das andre mit solcher Gewalt und Erbitterung, da? dieses schimpflich ware in die Flucht geschlagen worden, wenn ihr einzelner Widersacher sich nicht sehr brav gehalten und seine Gegnerin doch noch zuletzt entwaffnet und gefangengenommen hatte. Aber auch da noch wehrte sie sich so gewaltsam, da? er, um seine Augen zu erhalten und die Feindin doch nicht zu beschadigen, sein seidenes Halstuch abrei?en und ihr die Hande damit auf den Rucken binden mu?te.

Dies verzieh sie ihm nie, ja sie machte so heimliche Anstalten und Versuche, ihn zu beschadigen, da? die Eltern, die auf diese seltsamen Leidenschaften schon langst achtgehabt, sich miteinander verstandigten und beschlossen, die beiden feindlichen Wesen zu trennen und jene lieblichen Hoffnungen aufzugeben.

Der Knabe tat sich in seinen neuen Verhaltnissen bald hervor. Jede Art von Unterricht schlug bei ihm an. Gonner und eigene Neigung bestimmten ihn zum Soldatenstande. Uberall, wo er sich fand, war er geliebt und geehrt. Seine tuchtige Natur schien nur zum Wohlsein, zum Behagen anderer zu wirken, und er war in sich, ohne deutliches Bewu?tsein, recht glucklich, den einzigen Widersacher verloren zu haben, den die Natur ihm zugedacht hatte.

Das Madchen dagegen trat auf einmal in einen veranderten Zustand. Ihre Jahre, eine zunehmende Bildung und mehr noch ein gewisses inneres Gefuhl zogen sie von den heftigen Spielen hinweg, die sie bisher in Gesellschaft der Knaben auszuuben pflegte. Im ganzen schien ihr etwas zu fehlen, nichts war um sie herum, das wert gewesen ware, ihren Ha? zu erregen. Liebenswurdig hatte sie noch niemanden gefunden.

Ein junger Mann, alter als ihr ehemaliger nachbarlicher Widersacher, von Stand, Vermogen und Bedeutung, beliebt in der Gesellschaft, gesucht von Frauen, wendete ihr seine ganze Neigung zu. Es war das erstemal, da? sich ein Freund, ein Liebhaber, ein Diener um sie bemuhte. Der Vorzug, den er ihr vor vielen gab, die alter, gebildeter, glanzender und anspruchsreicher waren als sie, tat ihr gar zu wohl. Seine fortgesetzte Aufmerksamkeit, ohne da? er zudringlich gewesen ware, sein treuer Beistand bei verschiedenen unangenehmen Zufallen, sein gegen ihre Eltern zwar ausgesprochnes, doch ruhiges und nur hoffnungsvolles Werben, da sie freilich noch sehr jung war: das alles nahm sie fur ihn ein, wozu die Gewohnheit, die au?ern, nun von der Welt als bekannt angenommenen Verhaltnisse das Ihrige beitrugen. Sie war so oft Braut genannt worden, da? sie sich endlich selbst dafur hielt, und weder sie noch irgend jemand dachte daran, da? noch eine Prufung notig sei, als sie den Ring mit demjenigen wechselte, der so lange Zeit fur ihren Brautigam galt.

Der ruhige Gang, den die ganze Sache genommen hatte, war auch durch das Verlobnis nicht beschleunigt worden. Man lie? eben von beiden Seiten alles so fortgewahren, man freute sich des Zusammenlebens und wollte die gute Jahreszeit durchaus noch als einen Fruhling des kunftigen ernsteren Lebens genie?en.

Indessen hatte der Entfernte sich zum schonsten ausgebildet, eine verdiente Stufe seiner Lebensbestimmung erstiegen und kam mit Urlaub, die Seinigen zu besuchen. Auf eine ganz naturliche, aber doch sonderbare Weise stand er seiner schonen Nachbarin abermals entgegen. Sie hatte in der letzten Zeit nur freundliche, brautliche Familienempfindungen bei sich genahrt, sie war mit allem, was sie umgab, in Ubereinstimmung; sie glaubte glucklich zu sein und war es auch auf gewisse Weise. Aber nun stand ihr zum erstenmal seit langer Zeit wieder etwas entgegen: es war nicht hassenswert; sie war des Hasses unfahig geworden, ja der kindische Ha?, der eigentlich nur ein dunkles Anerkennen des inneren Wertes gewesen, au?erte sich nun in frohem Erstaunen, erfreulichem Betrachten, gefalligem Eingestehen, halb willigem halb unwilligem und doch notwendigem Annahen, und das alles war wechselseitig. Eine lange Entfernung gab zu langeren Unterhaltungen Anla?. Selbst jene kindische Unvernunft diente den Aufgeklarteren zu scherzhafter Erinnerung, und es war, als wenn man sich jenen neckischen Ha? wenigstens durch eine freundschaftliche, aufmerksame Behandlung verguten musse, als wenn jenes gewaltsame Verkennen nunmehr nicht ohne ein ausgesprochnes Anerkennen bleiben durfe.

Von seiner Seite blieb alles in einem verstandigen, wunschenswerten Ma?. Sein Stand, seine Verhaltnisse, sein Streben, sein Ehrgeiz beschaftigten ihn so reichlich, da? er die Freundlichkeit der schonen Braut als eine dankenswerte Zugabe mit Behaglichkeit aufnahm, ohne sie deshalb in irgendeinem Bezug auf sich zu betrachten oder sie ihrem Brautigam zu mi?gonnen, mit dem er ubrigens in den besten Verhaltnissen stand.

Bei ihr hingegen sah es ganz anders aus. Sie schien sich wie aus einem Traum erwacht. Der Kampf gegen ihren jungen Nachbar war die erste Leidenschaft gewesen, und dieser heftige Kampf war doch nur, unter der Form des Widerstrebens, eine heftige, gleichsam angeborne Neigung. Auch kam es ihr in der Erinnerung nicht anders vor, als da? sie ihn immer geliebt habe. Sie lachelte uber jenes feindliche Suchen mit den Waffen in der Hand; sie wollte sich des angenehmsten Gefuhls erinnern, als er sie entwaffnete; sie bildete sich ein, die gro?te Seligkeit empfunden zu haben, da er sie band, und alles, was sie zu seinem Schaden und Verdru? unternommen hatte, kam ihr nur als unschuldiges Mittel vor, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie verwunschte jene Trennung, sie bejammerte den Schlaf, in den sie verfallen, sie verfluchte die schleppende, traumerische Gewohnheit, durch die ihr ein so unbedeutender Brautigam hatte werden konnen; sie war verwandelt, doppelt verwandelt, vorwarts und ruckwarts, wie man es nehmen will.

Hatte jemand ihre Empfindungen, die sie ganz geheimhielt, entwickeln und mit ihr teilen konnen, so wurde er sie nicht gescholten haben; denn freilich konnte der Brautigam die Vergleichung mit dem Nachbar nicht aushalten, sobald man sie nebeneinander sah. Wenn man dem einen ein gewisses Zutrauen nicht versagen konnte, so erregte der andere das vollste Vertrauen; wenn man den einen gern zur Gesellschaft mochte, so wunschte man sich den andern zum Gefahrten; und dachte man gar an hohere Teilnahme, an au?erordentliche Falle, so hatte man wohl an dem einen gezweifelt, wenn einem der andere vollkommene Gewi?heit gab. Fur solche Verhaltnisse ist den Weibern ein besonderer Takt angeboren, und sie haben Ursache sowie Gelegenheit, ihn auszubilden.

Je mehr die schone Braut solche Gesinnungen bei sich ganz heimlich nahrte, je weniger nur irgend jemand dasjenige auszusprechen im Fall war, was zugunsten des Brautigams gelten konnte, was Verhaltnisse, was Pflicht anzuraten und zu gebieten, ja was eine unabanderliche Notwendigkeit unwiderruflich zu fordern schien, desto mehr begunstigte das schone Herz seine Einseitigkeit; und indem sie von der einen Seite durch Welt und Familie, Brautigam und eigne Zusage unaufloslich gebunden war, von der andern der emporstrebende Jungling gar kein Geheimnis von seinen Gesinnungen, Planen und Aussichten machte, sich nur als ein treuer und nicht einmal zartlicher Bruder gegen sie bewies und nun gar von seiner unmittelbaren Abreise die Rede war, so schien es, als ob ihr fruher kindischer Geist mit allen seinen Tucken und Gewaltsamkeiten wiedererwachte und sich nun auf einer hoheren Lebensstufe mit Unwillen rustete, bedeutender und verderblicher zu wirken. Sie beschlo? zu sterben, um den ehemals Geha?ten und nun so heftig Geliebten fur seine Unteilnahme zu strafen und sich, indem sie ihn nicht besitzen sollte, wenigstens mit seiner Einbildungskraft, seiner Reue auf ewig zu vermahlen. Er sollte ihr totes Bild nicht loswerden, er sollte nicht aufhoren, sich Vorwurfe zu machen, da? er ihre Gesinnungen nicht erkannt, nicht erforscht, nicht geschatzt habe.

Dieser seltsame Wahnsinn begleitete sie uberallhin. Sie verbarg ihn unter allerlei Formen; und ob sie den Menschen gleich wunderlich vorkam, so war niemand aufmerksam oder klug genug, die innere, wahre Ursache zu entdecken.

Indessen hatten sich Freunde, Verwandte, Bekannte in Anordnungen von mancherlei Festen erschopft. Kaum verging ein Tag, da? nicht irgend etwas Neues und Unerwartetes angestellt worden ware. Kaum war ein schoner Platz der Landschaft, den man nicht ausgeschmuckt und zum Empfang vieler froher Gaste bereitet hatte. Auch wollte unser junger Ankommling noch vor seiner Abreise das Seinige tun und lud das junge Paar mit einem engeren Familienkreise zu einer Wasserlustfahrt. Man bestieg ein gro?es, schones, wohlausgeschmucktes Schiff, eine der Jachten, die einen kleinen Saal und einige Zimmer anbieten und auf das Wasser die Bequemlichkeit des Landes uberzutragen suchen.

Man fuhr auf dem gro?en Strome mit Musik dahin; die Gesellschaft hatte sich bei hei?er Tageszeit in den untern Raumen versammelt, um sich an Geistes- und Glucksspielen zu ergotzen. Der junge Wirt, der niemals untatig bleiben konnte, hatte sich ans Steuer gesetzt, den alten Schiffsmeister abzulosen, der an seiner Seite eingeschlafen war; und eben brauchte der Wachende alle seine Vorsicht, da er sich einer Stelle nahte, wo zwei Inseln das Flu?bette verengten und, indem sie ihre flachen Kiesufer bald an der einen, bald an der andern Seite hereinstreckten, ein gefahrliches Fahrwasser zubereiteten. Fast war der sorgsame und scharfblickende Steurer in Versuchung, den Meister zu wecken, aber er getraute sichs zu und fuhr gegen die Enge. In dem Augenblick erschien auf dem Verdeck seine schone Feindin mit einem Blumenkranz in den Haaren. Sie nahm ihn ab und warf ihn auf den Steuernden.»Nimm dies zum Andenken!«rief sie aus.»Store mich nicht!«rief er ihr entgegen, indem er den Kranz auffing;»ich bedarf aller meiner Krafte und meiner Aufmerksamkeit.«—»Ich store dich nicht weiter«, rief sie;»du siehst mich nicht wieder!«Sie sprachs und eilte nach dem Vorderteil des Schiffs, von da sie ins Wasser sprang. Einige Stimmen riefen:»Rettet! rettet! sie ertrinkt. «Er war in der entsetzlichsten Verlegenheit. Uber dem Larm erwacht der alte Schiffsmeister, will das Ruder ergreifen, der jungere es ihm ubergeben, aber es ist keine Zeit, die Herrschaft zu wechseln: das Schiff strandet, und in eben dem Augenblick, die lastigsten Kleidungsstucke wegwerfend, sturzte er sich ins Wasser und schwamm der schonen Feindin nach.

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